Bei Konsumgütern und Lebensmitteln zählt 2011 die Marke wieder mehr als der Preis. Das Internet und die Lust auf möglichst individuellen Luxus machen Verbraucher experimentierfreudiger. Gefragt sind Marketing-, Vertriebs- und E-Commerce-Experten, die aus Shopping-Abenteurern treue Kunden machen.
>> Chancen
Die Marke ist tot. Es lebe die Marke. Die Gesetze der Konsumgüter- und Lebensmittelindustrie sind einfach verrückt. Jahrelang griffen deutsche Verbraucher nach der Euro-Einführung wegen der gefühlten Preissteigerung nach No-Name-Produkten wie "Ja", "Tandil" oder "Tip" und ließen deren Marktanteile von 28 Prozent im Jahr 2001 auf 41 Prozent im Jahr 2008 empor schnellen. Doch dann endete plötzlich der Siegeszug der Billigprodukte. Ausgerechnet in der Wirtschaftskrise feierten die Markenartikler ihr Comeback.
"Die Kunden suchten nach etwas, dem sie vertrauen konnten", urteilt Günther Nessels von der Beratungsagentur Retailors. Doch auch die Preisentwicklung bescherte den klassischen Markenartiklern Rückenwind: "Weil 2009 die Lebensmittelpreise sanken, kauften die Verbraucher weniger preisbewusst", berichtet Thomas Bachl vom Marktforschungsunternehmen GfK.
Ebenso verrückt ist, dass diese Entwicklung auch nach der Krise weitergeht. Obwohl die Preise seit Mitte 2010 wieder steigen, halten gleich zwei Trends nachhaltig an, die den Markenherstellern auch 2011 weiter in die Hände spielen dürften. Der Trend weg vom No-Name-Produkt hin zum Markenartikel. Und der Trend weg von Discountern wie Aldi & Co hin zu den klassischen Supermärkten wie Rewe und Edeka. Laut Berechnungen der GfK verlor der Discounter Aldi 2010 ein Prozent seines Umsatzes. Ein Grund: Markenhersteller wie Unilever, Henkel und Nestlé warteten nach der Krise mit einem Feuerwerk an Produktneuheiten auf, die ihnen 2010 kräftige Umsatzzuwächse einbrachten und die von der Billigkonkurrenz nur mit Zeitverzögerung kopiert werden können.
Den Markenriesen wird es zudem auch 2011 leichter fallen, die Preissteigerungen an den Konsumenten weiterzureichen, die durch die höhere Rohstoff- und Energiekosten und die Inflation verursacht sind. Laut einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens Millward Brown unter einer Million Verbrauchern in 20 Ländern treffen zurzeit nur noch sieben Prozent der Konsumenten ihre Kaufentscheidung anhand des Preises. Gleich 81 Prozent hingegen lassen sich durch das Markenversprechen anregen. Im Vorjahr war der Preis noch für 20 Prozent entscheidend. Die knifflige Aufgabe für die Lebensmittel- und Konsumgüterindustrie lautet daher: "Eine Balance zu finden zwischen dem Bedürfnis des Verbrauchers nach Markenware und dessen Zahlungsbereitschaft", sagt Millward-Brown-Geschäftsführer Bernd Büchner.
Genau dafür brauchen die Markenhersteller Experten für Marketing, Vertrieb, Preisgestaltung und E-Commerce. In einer Umfrage der WirtschaftsWoche kündigte Henkel an, 2011 rund 300 Wirtschaftswissenschaftler, aber auch Ingenieure, Informatiker und Naturwissenschaftler einstellen zu wollen, Procter & Gamble sprach von 120 vakanten Jobs für Akademiker, Adidas von 100 neuen Jobs, Beiersdorf von 80 offenen Stellen. Auch der Marktforscher GfK, der die neuesten Trends in Handel und Konsumgüterindustrie laufend analysiert, will 50 neue Nachwuchskräfte an Bord nehmen, 50 offene Stellen meldete auch der auf Kundenbindungsprogramme wie Payback spezialisierte Dienstleister Loyalty Partner.
Die Neueinsteiger dürfen sich um Konsumenten kümmern, die zwar kaufwillig, zugleich aber auch experimentierfreudig sind. "Die Lust, lokale Marken statt bekannter multinationaler Produkte auszuprobieren, ist bei vielen gestiegen", beobachtet Catherine Roche von der Unternehmensberatung Boston Consulting Group in Düsseldorf. "Eifrig wird zudem in neuen Online-Portalen nach Produkten recherchiert oder auch direkt im Internet eingekauft".
Ob ein Produkt im realen oder virtuellen Einkaufskorb landet, hängt immer stärker davon ab, ob die Ware im Internet von anderen Konsumenten empfohlen wird. Die Produkte müssen ökologisch unbedenklich und vor allem nicht über Niedrigstlöhne oder unzumutbare Arbeitsbedingungen in den Herstellerländern entstanden sein. "Das Thema Nachhaltigkeit meint weit mehr als nur Recycling-Papier und Bio-Produkte", skizziert Boris Hedde, Geschäftsführer vom Institut für Handelsforschung IFH Köln, eine entscheidende Veränderung für Handel und Konsumgüterindustrie. "Wer heute aus strategischen Gründen die Weichen nicht auf Nachhaltigkeitsprozesse im eigenen Unternehmen stellt, wird morgen zunehmend Marktanteile verlieren". 60 Prozent der Konsumenten, so eine Studie des IFH unter 1.000 Verbrauchern Ende 2010, haben in letzter Zeit bereits ihr Einkaufsverhalten in Bezug auf Nachhaltigkeitsaspekte verändert.
Doch nicht nur die Nachhaltigkeit birgt für Hersteller erhebliches Potenzial. Zu den weiteren Wachstumstreibern zählen die Märkte für korankonforme Lebensmittel sowie Nahrungsmittel, die genau zwischen Nahrung und Medizin liegen. Nahrungsmittel, die nach den Vorschriften des Korans gefertigt werden, sind derzeit für die Lebensmittelindustrie der am schnellsten wachsende Markt. Der Ansatz: Die weltweit 1,6 Milliarden Muslime dürfen weder Schweinefleisch noch Blut oder Alkohol zu sich nehmen, gleiches gilt für Bouillon oder Gelatine, die aus Schweinefleisch gewonnen werden. Konzerne wie Unilever oder Nestlé stürzen sich auf dieses so genannte Halal-Food (halal heißt im Arabischen soviel wie erlaubt) und produzieren korankonforme Kaffees, Würzmischungen und Gummibärchen aus Rindergelatine. Europaweit setzte die Lebensmittelbranche 2010 mit Halal-Produkten bereits 67 Milliarden Euro um, weltweit waren es nach Expertenschätzungen 442 Milliarden Euro.
Ähnlich große Volumina bewegen die Konzerne mit Gesundheitsnahrung. Nestlé gründete dafür sogar eine eigene Tochter. "Wir schaffen nicht nur ein neues Unternehmen, sondern eine ganz neue Industrie", kommentierte Nestlé-Verwaltungsratschef Peter Brabeck seine neue Nestlé Health Science AG. Mit Nahrung, die helfen soll, chronischen Krankheiten wie Diabetes, Fettleibigkeit und Alzheimer vorzubeugen, erzielte das Schweizer Unternehmen 2010 fast acht Milliarden Euro. Knapp 400 Millionen Euro will Nestlé in der nächsten Dekade in den neuen Zweig investieren. Dabei lockt auch der asiatische Markt: Allein China soll - so heißt es bei Nestlé - für die Bekämpfung chronischer Krankheiten bis 2015 rund 350 Milliarden Euro ausgeben müssen.
In den aufsteigenden Wirtschaftsnationen Asiens und Lateinamerikas eröffnet zudem die wachsende Mittelschicht den Konsumgüter- und Luxusherstellern neue Wachstumschancen. "Die Verbraucher in China, Indien und Brasilien bleiben die maßgebliche Stütze für den Konsumgüterabsatz", sagt Peter Thormann, Experte für die Konsumgüterindustrie bei der Unternehmensberatung Deloitte. Das gilt vor allem für Produkte, die edel und teuer sind, wie Luxusuhren, Juwelen, Luxuslederwaren, Accessoires, Parfüms, Weine und Spirituosen. Besonders die Chinesen haben das Luxusshopping entdeckt - und die Touristenströme aus Asien und Russland kehren in die europäischen Luxustempel zurück. Nach Einschätzung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers wird China in fünf Jahren der weltweit größte Abnehmer für Luxusgüter sein. Für 2011 kann sich die Luxusbranche weltweit auf ein Umsatzplus von zehn Prozent freuen. Dann soll es eine Rückkehr zu den gewohnten Zuwächsen geben: sieben Prozent jährlich.
>> Risiken
Die steigenden Rohstoff- und Energiekosten, die Angst vor einer Hyperinflation und die hohen Staatsverschuldungen schweben weltweit über der Konsumgüter- und Lebensmittelindustrie wie ein Damoklesschwert. Im Frühjahr 2011 zeichnete sich erstmals ab, dass trotz boomender Wirtschaft auch bei deutschen Verbrauchern die Angst vor Inflation auf das Kaufverhalten durchschlagen wird.
Erste Hersteller begannen die Preissteigerungen entlang der Wertschöpfungskette an ihre Kunden weiterzureichen. Die große Gefahr dabei: Auch wenn Unternehmen glauben, noch gute Geschäfte zu machen, müssen sie vielleicht schon wenige Monate später feststellen, dass die gestiegenen Kosten ihre Rendite aufgefressen haben.
"Bereits eine Inflationsrate von fünf bis sechs Prozent kann für viele Hersteller das Aus bedeuten", urteilt Unternehmensberater Daniel Stelter von der Boston Consulting Group: "Denn nur wer es angesichts einer drohenden Inflation schafft, sich möglichst stabile Preise im Einkauf durch langfristige Lieferverträge zu sichern und zugleich Preissteigerungen an seine Kunden weiterzugeben, bleibt langfristig liquide und kann weiter Geld verdienen". Renommierte Markenanbieter haben hier im Vergleich zu Herstellern von No-Name-Produkten zwar die besseren Karten, weil ihre Lieferanten von ihnen in der Regel abhängiger und ihre Kunden loyaler sind. Aber selbst namhafte Konzerne müssen aufpassen, dass ihnen die Kosten nicht aus dem Ruder laufen.
Die Renditen sind auf den ohnehin schon weitgehend gesättigten Märkten der westlichen Industrienationen vergleichsweise gering. Wachsen lässt sich hier häufig nur noch auf Kosten der anderen. So kamen die Umsatzrückgänge von Aldi im vergangenen Jahr vor allem den Konkurrenten Rewe und Edeka zugute. Das aber ändert wenig an der Tatsache, dass der Markt zumindest in Deutschland von den Großen Fünf des Handels dominiert wird: Metro, die Schwarz-Gruppe (dazu gehören Lidl und Kaufland), Aldi, Rewe und Edeka (denen Netto und Plus gehört) decken rund 70 Prozent des Lebensmittelmarktes ab und diktieren den Herstellern die Preise. Das klappt weniger bei den großen Konzernen wie Nestlé oder Kraft Foods, die Marken wie Nutella, Milka oder Miracoli im Programm haben. Händler, die solche Klassiker nicht im Regal stehen haben, würden bei den Verbrauchern automatisch durchs Raster fallen. Schwerer haben es da schon die vielen kleinen Hersteller von Lebensmitteln oder Konsumgütern: Wer nicht spurt, wird nicht mehr gelistet.
Julia Leendertse