Außerhalb Deutschlands bietet die Welt noch Platz

Handel und Konsumgüterindustrie stehen vor gewaltigen Umwälzungen. Auf der Agenda des Managements stehen der Internet-Boom, der digitale Kunde und die weitere Internationalisierung. Gefragt sind Marketing-, Vertriebs- und E-Commerce-Experten, die Multi-Channel-Konzepte entwickeln und umsetzen können.

So gut wie derzeit war die Kauflaune der Verbraucher in Deutschland seit acht Jahren nicht mehr. Die Zinsen sind niedrig, da lohnt sich das Sparen nicht. Also tun sich die Verbraucher etwas Gutes und hauen ihr Geld auf den Kopf. Entsprechend hat der Einzelhandel nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2014 seinen Umsatz um real um 1,1 bis 1,3 Prozent erhöht. Das hört sich nicht viel an, ist aber ein ordentlicher Schritt nach vorne, denn in den beiden Vorjahren hatte die Branche lediglich ein reales Mini-Wachstum von 0,1 Prozent gereicht. Besonders gut gingen die Geschäfte im Internet- und Versandhandel sowie in Apotheken und im Geschäft mit kosmetischen, pharmazeutischen und medizinischen Produkten. Dagegen sank der Umsatz mit Textilien, Bekleidung, Schuhen und Lederwaren witterungsbedingt deutlich.

Da nach einer Prognose des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Deutschland auf eine Vollbeschäftigung zusteuert, die Löhne steigen und der Zuzug von Flüchtlingen sich positiv auswirkt, dürfte der private Konsum auch 2015 und 2016 weiter eine Stütze der deutschen Wirtschaft bleiben. Die Handelsbranche, zu der vom kleinen Fachgeschäft bis zum internationalen Großkonzern rund 400.000 Unternehmen gehören, macht einen Gesamtumsatz von mehr als 400 Milliarden Euro im Jahr und beschäftigt fast drei Millionen Menschen. Damit gehört sie zu den größten Arbeitgebern und ist selbst in konjunkturell schwierigen Zeiten immer noch ein stabiler Faktor auf dem Arbeitsmarkt.

Dabei sind die Karrierechancen im Handel sowohl für Akademiker als auch für Nichtakademiker sehr gut, denn es dominiert das Prinzip der Beförderung aus den eigenen Reihen: Durchschnittlich 80 Prozent der Führungskräfte werden intern entwickelt und zwei Drittel der Führungskräfte in dieser Branche haben nach Auskunft des Handelsverbandes HDE ausschließlich eine Lehre abgeschlossen.

Einstieg in den Handel

Dabei sind die Karrierechancen im Handel sowohl für Akademiker als auch für Nichtakademiker sehr gut, denn es dominiert das Prinzip der Beförderung aus den eigenen Reihen: Durchschnittlich 80 Prozent der Führungskräfte werden intern entwickelt und zwei Drittel der Führungskräfte in dieser Branche haben nach Auskunft des Handelsverbandes HDE ausschließlich eine Lehre abgeschlossen.

Wer Engagement zeigt, kann im Handel schon mit Anfang oder Mitte zwanzig eine Führungsrolle übernehmen. Das gilt besonders für Akademiker, denn der Akademikeranteil unter den Beschäftigten ist mit rund fünf Prozent immer noch sehr niedrig. Allerdings arbeitet die Branche schon länger daran, dass sich das ändert, denn die Geschäftsprozesse werden immer komplexer, die Internationalisierung nimmt zu, die Logistik wird komplizierter und das Internet sowie der  überdurchschnittlich wachsende Online-Handel stellen die Branche vor große Herausforderungen.

Die scheint sie jedoch ganz gut zu meistern, denn in einem internationalen Ranking der Unternehmensberatung A.T. Kearney arbeitete sich der deutsche Online-Handel um eine Position auf Platz fünf vor. Die deutschen Onlinehändler entwickelten sich rapide weiter, sagte A.T.-Kearney-Partner Mirko Warschun. Viele neue Konzepte würden den Handel im Netz mit realen Läden verknüpfen.

Wachstumsmotor e-commerce

Bestätigt wird dies auch von Berechnungen des Hauptverbands des Deutschen Einzelhandels (HDE), nach denen der Onlinehandel hierzulande 2014 um 17 Prozent auf 39 Milliarden Euro gewachsen ist – bei einem Einzelhandelsumsatz von insgesamt 459,3 Milliarden Euro. Professor Dirk Morschett von der Schweizer Universität Fribourg schätzt, dass der Onlinehandel in Deutschland bis 2025 einen Umsatz von 70 bis 90 Milliarden Euro oder einen Anteil von 14 bis 17 Prozent am Einzelhandelsumsatz erreichen wird. Davon profitiert sogar der stationäre Handel. Denn viele Kunden nutzen das Internet, um sich über Produkte schlau zu machen, um sie dann im Laden zu kaufen.

Allerdings ist die Entwicklung sehr unterschiedlich. Otto etwa geht es nicht gut. Der weltweit größte Versender nach Amazon baut derzeit sein Unternehmensportfolio komplett um, denn 2015 musste das Unternehmen erstmals in seiner langen Firmengeschickte einen Nachsteuerverlust melden.

Betrachtet man die Entwicklung separat nach Segmenten, so hat sich nach Angaben des Bundesverbands des Deutschen Textileinzelhandels bei Mode und Bekleidung die Dynamik merklich abgeschwächt: Nur noch mit drei Prozent wuchsen die Online-Umsätze 2014, aber der Marktanteil der Online-Shops betrage inzwischen 15 Prozent. Zusammen mit dem Kataloggeschäft und dem Teleshopping komme der Distanzhandel auf 18 Prozent des Volumens der Branche.

Der Möbelhandel über das Internet hingegen kommt nur sehr langsam in Schwung, Ikea etwa verkauft nur vier Prozent seiner Waren auf diesem Wege. Und aus den USA, die oft eine Vorreiter-Rolle haben, weiß Professor Morschett, dass der Internethandel mit Lebensmitteln gar nicht richtig in Fahrt kommt.

Verändertes Kundenverhalten

Manche Unternehmen, so etwa der Schuhhändler Takko, halten sich auch bewusst aus dem Onlinehandel heraus, denn sie kalkulieren ganz knapp und wissen aus der Branche, dass manche Wettbewerber wegen der vielen Retouren – das heißt der Rücksendung bestellter Ware – so gut wie kein Geld verdienen. Und dann gibt es auch andere, die zwar im Internet aktiv sind, deren Geschäftsmodell aber durch das Internet in seinen Grundfesten erschüttert wird. Das Paradebeispiel hierfür ist Tchibo. Das jahrzehntealte Konzept des Kaffeerösters, den Kunden jede Woche neue, überraschende Angebote zu machen, wird nun von Amazon und Tausenden anderen Anbietern bequemer bedient. Die Konsequenz daraus ist nun ein rigoroses Sparprogramm des Unternehmens.

Doch um am Online-Boom teilzuhaben, müssen Handels- und Konsumgüterunternehmen auch gezielt auf das veränderte Einkaufsverhalten reagieren. Multi-Channel-Vertrieb heißt nach wie vor das Zauberwort der Branche, in der vor allem der Handel versuchen muss, Produkte über alle Kanäle, darunter Katalog, Online-Shop und Geschäft, gleichermaßen anzubieten und diese Wege zum Kunden sinnvoll miteinander zu verknüpfen: „Kunden können sich per Katalog informieren, im Internet kaufen, die bestellte Ware in der Filiale abholen und die Reklamationen über das Call-Center abwickeln“, sagt das Beratungshaus PricewaterhouseCoopers.

Das erfordere neben einer Abstimmung und Vernetzung der Front-Ends zum Kunden integrierte Prozesse und Logistikkonzepte. Zudem reagieren Kunden auf das, was andere Kunden über das Produkt in den sozialen Medien oder auf entsprechenden Seiten kommentieren – und 70 Prozent entscheiden sich auf dieser Grundlage für oder gegen einen Kauf.

Gerade die Konsumgüterhersteller können so direkt ihren Kunden „zuhören“ und Trends oder den Effekt von Kampagnen erkennen und schnell neue Einsichten für die Produktentwicklung gewinnen. Das zwingt sie, enger mit den Online-Händlern zusammenzuarbeiten, was für so manches Unternehmen auch den Einstieg in das Direktgeschäft zur Folge hat. Procter & Gamble etwa hat schon seinen www.pgestore.com aufgebaut.

Neue Märkte erschließen

Für die Karriereentwicklung von Akademikern bedeutet das Wachstum des Online-Handels, dass sich Unternehmen, die die Erweiterung ihres Versand- und Internethandels auf der Agenda haben, auf das Know-how von Informatikern, Wirtschaftsinformatikern, Vertriebs- und Marketingexperten, Logistikern und Juristen, die sich mit Internetrecht auskennen, stützen müssen. Insbesondere die Nachfrage des Handels nach ITlern und Logistikern ist deshalb ungebrochen hoch.Trotz der derzeit in Deutschland guten konjunkturellen Entwicklung ist für die Handelsbranche zu konstatieren, dass sie das Ende der Fahnenstange hierzulande ziemlich erreicht hat. Eine Flächenexpansion ist kaum noch möglich. Und Übernahmen scheitern, da der Markt von Edeka, Rewe, Aldi, Lidl und Kaufland beherrscht wird, an Interventionen des Kartellamtes. So geschah es jüngst bei der geplanten Übernahme von Kaiser´s Tengelmann durch Edeka, in der der Wirtschaftsminister den gordischen Knoten durchschlagen musste.

Die Konsequenz, die die großen Händler schon vor Jahren gezogen haben, ist die Expansion ins Ausland, wo noch viel mehr Platz zum Wachsen da ist. Aldi und Lidl beispielsweise sind schon lange in Europa präsent und überaus erfolgreich. Zusammen haben die beiden Rivalen bereits die Märkte aufgemischt und alteingesessene Konkurrenten das Fürchten gelehrt – etwa in Großbritannien die ehemaligen Platzhirsche Tesco, Asda, Sainsbury und Morrison. Aldi Süd ist überdies seit Jahren in Australien sehr erfolgreich, hat dort schon elf Prozent Marktanteil erobert. Das gleiche gilt für die USA, wo Aldi schon knapp 1.500 Filialen betreibt und schnell weiter wachsen will. Derzeit bereitet auch Lidl von Virginia aus seinen Markteintritt in den USA vor, der mit Investitionen von mehr als 200 Millionen Euro gestemmt werden soll.

Im „Schlepptau“ solcher Auslandsexpansion profitieren auch die deutschen Konsumgüter-Hersteller. Wenn etwa Gummibärchen sich bei Aldi in Australien hervorragend verkaufen, hat auch Haribo was davon.

Doch es gibt auch schwierige Entwicklungen, mit der sowohl der Handel als auch die Konsumgüterbranche zu kämpfen haben. Dazu gehört, dass die Ansprüche der Kunden allenthalben wachsen und sie noch stärker in viele unterschiedliche Teil-Zielgruppen zerfallen, die jeweils für sich mit ihren Bedürfnissen und Wünschen bedient werden wollen. Weltweit ist außerdem der Trend zu beobachten, dass  Gesellschaften sich polarisieren: Die Mitte schrumpft. Daher investiert beispielsweise Unilever-Chef Paul Polman einerseits in besonders preiswerte Produkte und andererseits in Premium-Marken.

Wohlfühl-Konsum

Marktforscher haben bereits beobachtet, dass sich das Kaufverhalten der Konsumenten in jüngster Zeit deutlich gewandelt hat. Die starke Fixierung auf den Preis bei deutschen Kunden geht zurück, das Argument Nachhaltigkeit wird immer wichtiger. Die Menschen kaufen weniger, aber dafür höherwertiger. Neben Biolebensmitteln sind insbesondere regionale Produkte immer gefragter. Die Konsumenten wollen wissen, was in den Lebensmitteln drin ist und wo sie herkommen. Die Supermarktketten wie Edeka und Rewe haben sich auf diesen Trend sehr früh und gut eingestellt. Die Discounter müssen nun noch nachziehen.

Gerade in Konkurrenz zum Online-Handel kann der Präsenz-Handel wieder mit persönlicher Bedienung sowie freundlichem und kompetentem Personal punkten – und beginnt auch bereits damit, seine Ladenplanung umzustellen. Denn neben guter Qualität will der Kunde auch ein Einkauferlebnis. Daher holt nun beispielsweise Rewe die US-Kaffeehauskette Starbucks in seine Läden. Und die Discounter experimentieren mit größeren, helleren Läden, attraktiverer Warenpräsentation und Kunden-WCs mit Wickeltisch.

Eine besonders wichtige Zielgruppe ist in den Industrieländern ist die Generation der „Silver Ager“. Deren Potenzial schöpft der Handel nach Meinung vieler Experten noch nicht richtig aus. „Während die meisten Einzelhändler günstige Preise und eine schnelle Bedienung als kaufentscheidend ansehen“, sagt A.T. Kearney-Berater Mirko Warschun, „legen ältere Kunden weniger Wert auf niedrige Preise und mehr Wert auf die Qualität der Produkte und Dienstleistungen.“ Einkaufen ist für sie mehr ein soziales Event und eine Freizeitbeschäftigung als eine pure Notwendigkeit.

Julia Leendertse/Annette Eicker